Smithsonian Folkways Recordings
„Es begann vor langer, langer Zeit…“, so könnte ich beginnen ohne die Unwahrheit zu schreiben. Zwischenstop war 1952, als eine Arbeit des damals erst 29jährigen Harry Smith, die Öffentlichkeit erreichte. Mitten in die Hochphase der McCarthy-Aera, der Hetzjagd auf alle Andersdenkenden, stellte dieses sechs Langspielplatten umfassende und bis heute unübertroffene Tondokument ein anderes Amerika da. Ein Amerika der Arbeiter, Farmer und Indianer, das im Schatten des offiziellen, des konsumorientierte Amerikas darbte. Ein unheimliches Amerika.
Smiths Box-Set bot auf den sechs LPs 84 Songs. Viele Aufnahmen stammten aus einer längst vergangenen Zeit, auch wenn ihre Aufzeichnungsdaten auf die 20er und 30er Jahre verwiesen. Die Plattenhüllen sind alle mit einem Kupferstich von Theodore de Bry bedruckt, das ein Instrument abbildet dessen Herkunftsgeschichte bis ins 4. Jahrhundert vor Christi reicht. Smith selbst bezeichnete es als “ das himmlische Monochord“ (ein Instrument zur Ton- und Intervallmessung), da es auch von Gottes Hand gestimmt wird. Smith hob als erster die Trennung zwischen den Blues-, Hillbilly- und Gospelmusikern auf. Erstmals fanden sie sich, trotz des so oft beschworenen gesellschaftlichen Unterschiedes, gemeinsam auf einer Schallplatte wieder.
Alle Hüllen sind zusätzlich farblich unterschieden, und zwar durch die Farben Blau (Luft), Rot (Feuer) und Grün (Wasser). Schließlich sind alle Sets einem eigenen Thema gewidmet:
Volume One: Ballads Volume Two: Social Music Volume Three: Songs
„Those old songs are my lexicon and my prayer book. All my beliefs come out of those old songs, literally, anything from ‚Let Me Rest on That Peaceful Mountain‘ to ‚Keep on the Sunny Side.‘ You can find all my philosophy in those old songs. I believe in a God of time and space, but if people ask me about that, my impulse is to point them back toward those songs. I believe in Hank Williams singing ‚I Saw the Light.‘ I’ve seen the light, too.“ Bob Dylan, 1997 |
Das original Handbuch beeindruckt durch eine Fülle an Informationen, die Smith mit allerhand Überspitzungen anreicherte. Die Notizen werden dem Leser in einer Mischung aus Telegrammstil und Schlagzeilen präsentiert, angereichert mit den exakten Angaben zu Label, Interpret usw. Es ist faszinierend durchzusehen und unterdessen in die Welt von Harry Smith abzutaucht. Gefördert wird diese Erfahrung durch die einzigartige Gestaltung des Buches, in dem sich nüchterne Tabellenansichten mit Bilderfluten im Stil alter Drucktechniken abwechseln.
Greil Marcus, seines Zeichens angesagtester Autor auf dem Gebiet der Musikgeschichte Amerikas, zitiert im beiliegenden Heft den Künstler Bruce Conner. Er erinnert sich, das Smiths Anthologie „die Konfrontation mit einer fremden Kultur oder einer anderen Weltsicht [war], einer Sichtweise, die geheimnisvolle oder unbekannte oder ungewohnte Perspektiven auf die Welt gewährte.[…] – das ganze erinnerte an ethnologische, vor Ort aufgenommene Tondokumente aus dem Amazonasgebiet oder aus Afrika, doch es stammte von hier, aus den Vereinigten Staaten![…] Es zeigte, das es in diesem Land noch etwas anderes gab als die Gedankenkontrolle, wie sie in Wichita gang und gäbe war.“1) Viele hielten die Protagonisten auf den LPs für längst verstorben, obwohl viele von Ihnen bei Erscheinen der Sets noch lebten.
Zu Ehren Harrys Arbeit fand die Reproduktion der Box unter ähnlichen Bedingungen statt wie 1952. Alte Drucktechniken wurden simuliert und spezielles Papier ausgewählt.
Harry Smith selbst wurde 1923 in Portland, Oregon geboren. Er wuchs in Seattle und Umgebung auf. In New York City, wo er 1991starb, hatte er sich einen Namen als Überlebenskünstler und Philosoph machte. Manche hielten ihn auch für einen Schnorrer. Neben diesen ganzen „Aktivitäten“ war er aber auch noch etwas anderes, und zwar ein absoluter Plattenjunkie. Und das in einer Zeit wo durch Kriege das Schellack knapp wurde, und die Plattenfirmen die eigenen Scheiben von den Dealern zurückkauften um sie einzuschmelzen. Moses Asch, Gründer von Folkways Records:“ New York Band and Instrument and all the other dealers that I used to pick up records from had tables full of this stuff- the greatest music in the world -and New York knew nothing about it. Right? Harry Smith had the same thing on the West Coast. He bought up thousands of records. He knew what he was doing because all this time he kept track of when the records where recorded and who recorded them. In those days, they issued catalogs that gave the date, the matrix number and the place of the session.„ Schließlich landete Harry bei Moses mit nur einen Wunsch: „Look, this is what I want to do. I want to lay out the book of notes. I want to do the hole thing. All I want to be sure of is that they are issued.“
Im Booklet finden sich außer dem Buchauszug von Greil Marcus noch weiter Texte, die sich mit den Entwicklungen und Auswirkungen rund um diese Scheiben beschäftigen. John Pankake beispielsweise berichtet über die Veränderungen, die viele Amerikaner nach dem Erwerb dieser Platten durchlebten. Noch vieles mehr gibt es von Moses Asch, Neil v. Rosenberg, oder Luis Kemnitzer zu lesen. Zusätzliche Infos finden sich dann auch noch einmal zu jedem einzelnen Titel, allerdings dann etwas nüchterner als in Smiths Ausführungen.
Da Smithsonian Folkways Records im Rahmen ihres crossroads-Projektes schon einige Erfahrungen mit den neuesten Multimedia-Entwicklungen sammeln konnte, durfte natürlich auch in dieser Box ein Multimediatreck nicht fehlen. Auf CD No. 6 finden wir ihn dann auch. Hier gibt es noch einmal einige Archivschnipsel, reichlich Material von und über Smith, sowie Interviews zum Thema Folkways. Alles in allem Material für knapp zwei Stunden sehen und hören. Wie haben die das bloß da drauf bekommen?
Greil Marcus hat schon ein ganzes Buch zu dieser Sammlung verfasst, das in Auszügen im beiliegenden Heft abgedruckt ist. Marcus geht den Weg über Dylan, was bei mir zu einem wahren Dylan-Comeback geführt hat. Wie stark Macus in der Musikgeschichte verheddert ist zeigen seine Ausführungen zu der Dylan CD “ Time Out Of Mind“, unter anderem als deutsche Übersetzung im ZEIT-Archiv zu finden.
Alle Grafigen ®© by folkways records inkl. Hintergrund |
1) Marcus, Greil: basement tapes. Übers. v. Fritz Schneider. Hamburg: Rogner & Bernhard ©1998
Original: Invisible Republic: Bob Dylan`s Basement Tapes. New York: Henry Holt ©1997